Die Preisbildung auf den Finanzmärkten nennt der Wiener Ökonom Stephan Schulmeister katastrophal. Wenn es um die Finanzierung des Gemeinwesens geht, dürfe die Zinsbildung nicht den Märkten überlassen bleiben. Schulmeister macht nicht einzelne Akteure für die Krise verantwortlich, sondern die Spielanordnung. Sie müsse geändert werden.
Europa kriegt die Krise nicht in den Griff. Immer wieder müssen Banken gestützt werden. Was läuft schief?
Stephan Schulmeister: In Europa gibt es unvergleichlich wenige Regulationen der Finanzmärkte. Deutlich weniger als in den USA. Dort hat der Kongress mit dem Frank-Dodd-Gesetz inzwischen eine Fülle von Vorschriften geschaffen. Europa tut sich viel schwerer damit, die Finanzmärkte zu regeln.
Woran liegt das?
Schulmeister: Die Marktreligiosität ist in Europa viel ausgeprägter als in den USA.
Die Europäer sind strengere Marktanhänger als die Amerikaner? Amerika gilt als das Mutterland des freien Marktes, wie kann das sein?
Schulmeister: Das klingt nur auf den ersten Blick absurd. In Europa glauben die Eliten an das, was sie sagen. In den USA ist das nicht unbedingt so. Da loben Politiker in Sonntagsreden den Markt und unter der Woche machen sie eine sehr viel pragmatischere Politik. Nach der neoliberalen Ideologie darf die Politik nicht die Wirtschaft steuern. Aber das ist genau das, was die Amerikaner seit 20 Jahren machen. Die klassische Lehre der Marktanhänger wurde dort nur zehn Jahre praktiziert, nämlich in den 80er-Jahren unter Präsident Reagan. Die Politik hat sehr schnell gemerkt, dass sie die Industrie damit wirtschaftlich ruiniert. Den Kurswechsel hat es in den USA vor etwa 20 Jahren unter Präsident Clinton und Notenbankchef Greenspan gegeben. Die Europäer haben es nur nicht gemerkt.
Wie sieht dieser Kurswechsel in den USA aus?
Schulmeister: In den letzten 20 Jahren hat die US-Regierung antizyklisch investiert. Sie haben in der Krise Geld ausgegeben, also entgegen der neoliberalen Lehre gehandelt. Die Notenbank hat die Geldmengensteuerung nach Friedman schon lange aufgegeben. Sie manipuliert die Zinsen. Es ist eine Tragödie, dass ausgerechnet die Europäer der Theorie auf den Leim gegangen sind, wonach die Politik an Regeln gebunden werden muss, der Markt dagegen nicht.
Warum ist das eine Tragödie?
Schulmeister: Der Neoliberalismus ist eine Theorie der Vereinzelung. Jeder ist für sich und seine Chancen selbst verantwortlich. Das passt besser zu einem Einwanderungsland wie den USA, wo Migranten sich auf eigene Faust ein neues Leben aufgebaut haben und oft Einzelkämpfer waren. In Europa hat sich dagegen über die Jahrhunderte eine Wirtschaftskultur entwickelt, die eher kooperativ war.
Dennoch haben die Europäer den neoliberalen Weg eingeschlagen. Wie kam es dazu?
Schulmeister: Es gab zwei entscheidende Phasen der Deregulierung. Die erste Phase begann mit der Aufgabe fester Wechselkurse. Die zweite begann zehn Jahre später mit der Aufgabe fester Zinssätze durch die Notenbanken. Bis dahin hatten die Notenbanken die Zinsen immer unterhalb der Wachstumsrate festgelegt. Wenn wir in der Geschichte zurückblicken, stellen wir fest, dass es unter diesen Bedingungen immer stabile Wirtschaftsphasen gab. Bei Zinssätzen unterhalb der Wachstumsraten lohnte es sich in die Realwirtschaft zu investieren. Ein Unternehmer, der eine Maschine kauft, muss davon eine höhere Rendite erwarten als vom Kauf einer Staatsanleihe.
Darauf konnten sich Unternehmer nicht mehr verlassen?
Schulmeister: Nein, und es führte zu einer Transformation der deutschen Wirtschaftskultur. Plötzlich glaubten alle, sie könnten ihr Geld arbeiten lassen.
Wozu führte dieses Denken?
Schulmeister: In allen industriellen Bereichen ist das Wirtschaftswachstum zurückgegangen. Die Gesamtwirtschaft hat sich immer weiter verschlechtert, der Sozialstaat wurde abgebaut. Letztendlich hat Europa sich selbst entfremdet.
Warum hält Europa dennoch an dieser Ideologie fest?
Schulmeister: Die Eliten lernen erst, wenn ihnen das Wasser bis zum Hals steht. Und das ist noch lange nicht der Fall. Nach dem Börsenkrach 1873 brauchte es 15 Jahre Depression, bevor sich etwas änderte.
Es gibt zwar Zweifel. Die Wirtschaftspresse glaubt nicht mehr an die Effizienz der Finanzmärkte. Deshalb glaubt sie aber noch lange nicht an die Effizienz der Politik.
Wo muss die Politik ansetzen, um die Krise in Europa zu beenden?
Schulmeister: Es geht nicht darum, einzelne Schuldige zu suchen. Ich finde es nicht verwerflich, wenn einzelne Akteure innerhalb einer Spielanordnung ihren Vorteil suchen. Die Spielanordnung ist das Problem, sie muss geändert werden.
Wie können die Finanzmärkte reguliert werden?
Schulmeister: Regulierung ist so ein Zauberwort. Da passt alles und nichts rein. Wir müssen den Prozess evaluieren. Wir müssen uns anschauen, wie die Preisbildung auf den wichtigsten Finanzmärkten aussah. Hat die Entwicklung der Wechselkurse, Rohstoffpreise und Zinssätze dem entsprochen, was die neoliberale Theorie uns versprochen hat? In allen drei Fällen sage ich: nein. Nach der Theorie müssten die Preise für fossile Brennstoffe nach oben gehen, schließlich werden sie knapper und verursachen mit dem Klimawandel enorme Kosten. Tatsächlich schwanken sie enorm und völlig unberechenbar. Wenn Erdöl kontinuierlich und berechenbar teurer würde, würden sich Innovationen und Investitionen zur stetigen Verbesserung der Energieeffizienz lohnen, für die Industrie wie für die Haushalte, von neuen Formen der Elektromobilität bis zur Gebäudesanierung. Aber mit den ständigen Schwankungen der Energiepreise funktioniert das nicht.
Welchen Schluss ziehen Sie daraus?
Schulmeister: Die Preisbildung auf den Finanzmärkten ist katastrophal. Wenn es um die Finanzierung des Gemeinwesens geht, dürfen wir die Zinsen nicht dem Markt überlassen. Das funktioniert nicht. Und es treibt einen Keil zwischen Nord- und Südeuropa.
Welche Folgen hätte es, wenn Europa zerbricht?
Schulmeister: Am Ende der Währungsunion würde es einen großen Verlierer geben, und das wäre Deutschland. Denn am Ende verliert immer der Gläubiger.
Die Finanzpolitik in Europa wird entscheidend von ehemaligen Goldman Sachs-Mitarbeitern bestimmt. Die soziale Marktwirtschaft, einst das Aushängeschild demokratischer Staaten, ist inzwischen so gut wie abgeschafft. Die Politiker, die eigentlich den Markt zähmen müßten, werden von der (Finanz-)Wirtschaft mit Geld und nach der politischen Karriere mit Posten versorgt. Die Umverteilung nach unten, die mit der französischen Revolution begann, hat sich längst umgekehrt. Es findet fast ausschließlich eine Globalisierung der Wirtschaft statt - so läßt sich am meisten Druck auf einzelne Staaten ausüben. Macht haben nicht mehr Staaten (zumindest üben sie diese nicht aus), sondern längst globale Firmen. Die Wirtschaft besitzt die Medien, verdummt die Bevölkerung, ersetzt Interesse an Gemeinwohl durch Konsumgeilheit, denn das ist Grundbedingung für den Machterhalt der Eliten. Sie besticht und manipuliert die politischen Entscheidungsträger ebenso wie die Wähler und sichert sich damit auch die Meinungshoheit. "Der Krug geht solange zum Brunnen bis er bricht." Wirtschaftsdoktrien, die auf ewigen Wachstum setzen, sind paradox. Man läßt aus dem "Luftballon Erde" die Luft immer schneller raus. Notwendig wäre, bei der Menge an Menschen auf der Welt, die Abkehr vom Materialismus. Aber es geht weiter wie bisher. Bis der Bogen überspannt ist und die Masse so verarmt ist, dass sie sich wieder auflehnt (siehe Griechenland, Spanien, Frankreich etc.). Noch! funktioniert das deutsche Sozialsystem...