Wenn man internationale Vergleichsstudien anschaut, fällt auf, dass Deutschland in der internationalen Rangskala seinen Platz vollkommen verändert hat. Wir hatten bis in die 1990er-Jahre vergleichsweise geringe Einkommensunterschiede, wir lagen vergleichsweise nah an den skandinavischen Ländern, die in internationalen Vergleichsstudien in dieser Hinsicht immer am besten dastehen.
Wir haben in den zehn Jahren von 2000 bis 2010 in ganz Europa ganze zwei Länder, in denen die Kluft zwischen hohen und niedrigen Einkommen noch schneller auseinandergegangen ist als in Deutschland, und diese zwei Länder sind Bulgarien und Rumänien.
Wie konnte das passieren?
Wir haben ein deutliches Schrumpfen der mittleren Einkommensschichten. Das sind die Einkommensgruppen, die zwischen 70 und 130 Prozent des Durchschnittseinkommens verdienen. Die mittleren Einkommensschichten haben von 2000 bis 2010 von 63,8 auf 58,2 Prozent abgenommen. Das sind über 5 Prozent, und hinter denen verbergen sich circa 4,5 Millionen Menschen. Ein kleiner Teil ist nach oben gegangen, nämlich circa 10 Prozent von diesen 4,5 Millionen. Ungefähr 3,5 Millionen sind dagegen in die unterste Einkommensgruppe abgestiegen. Das ist eine so dramatische Entwicklung, dass man sich aus politischen Gründen, aus gesundheitlichen Gründen, aus Bildungsgründen, aus ganz vielen Gründen fragen muss: Wie konnte so etwas passieren?
Wir haben in den unteren vier Zehnteln zudem Reallohnsenkungen binnen zehn Jahren zwischen 13 und 23 Prozent. Das heißt, das unterste Zehntel ist nicht nur größer geworden, das unterste Zehntel ist, was die Einkommen angeht, binnen eines Jahrzehnts um fast ein Viertel ärmer geworden. Wir haben binnen zehn Jahren nicht nur etwas mehr Reiche und sehr viel mehr Arme, sondern die Reichen sind erheblich reicher und die Armen deutlich ärmer geworden.
Konsequenzen
Ich komme jetzt zu den Konsequenzen: Wie wirkt sich das auf die Gesundheit der Bevölkerung aus? Ich nehme zwei Gruppen: Die eine Gruppe ist die, die man in der Statistik als arm bezeichnet. Die anderen sind die Wohlhabenden. Die Armen sind mehr als doppelt so häufig in keinem so guten Gesundheitszustand wie die Wohlhabenden. Dazu kommt, dass dieser Unterschied sich in den letzten zehn Jahren verstärkt hat. Das heißt, die materielle Entwicklung schlägt sich langsam aber sich auch im Gesundheitszustand nieder. Es schlägt sich auch in der Lebenserwartung nieder. Wenn Sie zu den armen Bevölkerungsschichten gehören, haben Sie als Mann eine Lebenserwartung von 70 Jahren. Gehören Sie zu den Wohlhabenden, haben Sie eine Lebenserwartung von 81. Auch Bildung hat mit Armut zu tun. Statistische Untersuchungen zeigen eindeutig, dass auch bei gleichen intellektuellen Voraussetzungen Armut sich negativ auf Bildungskarrieren auswirkt. Sie wirkt sich auf Berufskarrieren aus.
Ursachen
Warum haben wir in Deutschland in einem so kurzen Zeitraum so drastische Veränderungen erlebt? Alle diese Entwicklungen, die ich eben skizziert habe, haben sich abgespielt zwischen 2000 und 2006. Der Niedriglohnsektor ist seit 2006 weitgehend stabil mit Schwankungen durch die Wirtschafts- und Finanzkrise. Die Armutsquote lag 2006 schon bei 14,2 Prozent, das heißt, vier Fünftel der Steigerung im letzten Jahrzehnt sind in den ersten sechs Jahren erfolgt.
Was charakterisiert diese sechs Jahre politisch? Das sind die Hartz-Reformen zwischen 2003 und 2006. Das hat zu massiven Veränderungen in der unteren Hälfte der Bevölkerung geführt. Die wesentliche Ursache für die Zunahme von Armut in Deutschland, vor allem für die schnelle Zunahme von Armut, ist also nicht zu suchen in dem, was man allgemein als Erklärung bekommt, nämlich in der Globalisierung, die Arbeitsplätze vernichtet. Das spielt sicherlich eine Rolle, aber eben auch für andere Länder. Die Niederlande, die skandinavischen Länder oder Österreich sind ebenfalls in den Weltmarkt integriert, aber sie haben diese Entwicklung in Bezug auf Armut nicht mit vollzogen.
Erleichterungen für Reiche
Auf der anderen Seite hat es durch alle Regierungen hindurch, von rot-grün bis jetzt zu schwarz-gelb, permanente Erleichterungen für die Reichen gegeben und unter der jetzigen schwarz-gelben Regierung war die letzte maßgebliche Veränderung die deutliche Senkung und zum Teil Abschaffung der Erbschaftssteuer. Es werden enorme Summen vererbt. Alleine zwischen 2010 und 2020 in der Bundesrepublik 2,6 Billionen Euro. Die große Masse davon entfällt auf die oberen zehn Prozent. Es gibt pro Jahr ganze 0,2 Prozent der Erbfälle, die oberhalb einer Grenze von 250.000 Euro liegen. Das heißt, die Senkung der Erbschaftssteuer begünstigt nicht die unteren 90 Prozent der Bevölkerung, die sind meistens schon durch Freibeträge von dieser Steuer gar nicht betroffen.
Die Senkung der Erbschaftssteuer betrifft die oberen zehn Prozent, ganz massiv das obere Prozent und vor allem Erben von Firmenvermögen. Und da geht es eben nicht um den kleinen mittelständischen Unternehmer mit 30 Beschäftigten, der den Betrieb dicht machen müsste, wenn er sein Eigentum an seine Kinder vererbt, sondern es geht zum Teil um Milliardenvermögen. Angefangen hat das während der großen Koalition, Schwarz-Gelb hat es fortgesetzt. Die haben die Erbschaftssteuer in vielen Bereichen abgeschafft.
Die Kluft wächst
Das heißt, die Kluft, was die Vermögen angeht, wird enorm wachsen, und diese Kluft ist heutzutage schon viel größer, als man glaubt. In den USA besitzt das oberste Prozent der Bevölkerung 40 Prozent des Gesamtvermögens. Wir haben in Deutschland inzwischen auf das obere Prozent der Bevölkerung konzentriert 35,8 Prozent des Gesamtvermögens.
Wo führt das hin?
Die Konsequenzen, wenn das so weitergeht wie in den letzten zehn Jahren, hat man in Großbritannien beobachten können bei den Riots letztes Jahr. Das bedeutet für die Gesellschaft, sie hat enorme Kosten an einem Ende, wo sie früher nicht existiert haben, und sie wird Kosten umverlagern müssen. Und das ist dann der letzte Punkt, weil er besonders dramatisch ist, das kann man in den USA sehen: Wir erleben in den USA eine Entwicklung, wo an der Bildung gespart wird, damit man die Gefängnisse bezahlen kann. Drastisch ist das in Kalifornien: In Kalifornien hat sich binnen zehn Jahren das Verhältnis zwischen Kosten für Gefängnisse und für Hochschulen umgedreht. In Kalifornien wird inzwischen 1,5 Mal soviel für Gefängnisse wie für Hochschulen ausgegeben.