"Wir brauchen einen anderen Kapitalismus", sagt Berthold Huber im Interview mit dem spanischen Wirtschaftsmagazin "Consejeros". Das Blatt hat den Ersten Vorsitzenden der IG Metall für seine Oktober-Ausgabe ausführlich befragt.
Huber spricht mit der Journalistin Lidia Conde auch über den "europäischen Traum" der Gewerkschaften, die Zukunft des Sozialstaates und eine neue Ordnung auf dem Arbeitsmarkt. Wir dokumentieren das komplette Interview auf Deutsch.
Herr Huber, brauchen wir einen neuen Kapitalismus?
Huber: Es gibt nicht „den Kapitalismus“! Der Kapitalismus hat viele Ausprägungsformen. So hat sich seit den 1930er Jahren insbesondere in den skandinavischen Staaten, aber auch darüber hinaus, ein sozialdemokratischer Reformpfad etabliert. Das war und ist auch Kapitalismus. Dieses Modell ist jedoch u.a. durch einen stark investiven Wohlfahrtsstaat geprägt. Es setzt auf Wachstum, relativ geringe Ungleichheit und strebt eine Kopplung aus sozialer Befriedung und wirtschaftlicher Effizienz an.
Dieser Kapitalismustyp, der nach dem zweiten Weltkrieg auch viele industrialisierte Länder prägte, hat seine Dominanz verloren. An seine Stelle ist ein globaler finanzmarktgetriebener Kapitalismus getreten. Der globale finanzmarktgetriebene Kapitalismus hat u.a. zu einer Dominanz der Aktienmärkte und der Etablierung eines Schattenbankensystems geführt. Dadurch haben sich die Grundstrukturen unseres Wirtschaftssystems dramatisch verschoben und zur Dominanz der globalen Marktkräfte geführt. Das hat in der Krise 2008 und 2009 bekanntlich zu erheblichen Verwerfungen in der Realwirtschaft beigetragen.
Also: Ja, wir brauchen einen anderen Kapitalismus, einen Kapitalismus, der sich der sozialen Demokratie verpflichtet fühlt! Wir benötigen deshalb einen politisch gesetzten Ordnungsrahmen für die globalen Finanzmärkte und eine neue Balance zwischen Staat, Markt und Demokratie.
Genau diese Fragen diskutieren wir im Dezember auf dem Kurswechsel-Kongress in Berlin vom 5. – 7. Dezember 2012 in Berlin. Dort werden wir über das Gesicht eines neuen Wirtschafts- und Gesellschaftsmodells sprechen. Mit Wissenschaftlern und vor allem mit unseren betrieblichen Experten. Denn unsere Stärke liegt im Betrieb.
Der Schweizer Soziologe Jean Ziegler würde Spekulanten am liebsten wegen „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ vor Tribunale zerren. Was kann eine Gewerkschaft gegen die Gier und für eine bessere Gesellschaft tun?
Huber: Das Problem ist nicht so sehr die individuelle Gier, sondern sind Strukturen, in denen diese Gier einerseits belohnt wird und sie andererseits enormen Schaden anrichten kann. Wichtiger als Tribunale ist eine Regulierung der Finanzmärkte, die die ungehemmte Spekulation unmöglich macht. In den Betrieben ist die Mitbestimmung das Instrument, über das die IG Metall Einfluss nimmt. Betriebs- und Tarifpolitik schafft Sicherheit für die Beschäftigten und gibt Arbeit ihren Wert. Auch das gehört zu einer effektiven Struktur, in der sich Gier nicht durchsetzen kann.
Die SPD will den Kampf gegen die Banken zum zentralen Wahlkampfthema machen. Neben der Ungleichheit (Armut in Deutschland) wäre das etwa das Unbehagen vieler Menschen, dass die Banken als Auslöser der Finanzkrise immer noch nicht unter Kontrolle sind. Welche Position vertritt Ihre Gewerkschaft?
Huber: Banken müssen der Realwirtschaft dienen. Sie haben eine gesellschaftliche Aufgabe. Der Finanzsektor ist ein Intermediär und soll vor allem Ersparnisse in Investitionen für den realen Sektor „umwandeln“. Stattdessen sind noch immer ungebremst Spekulationen mit hochriskanten und undurchsichtigen Finanzprodukten möglich. Das zu ändern, ist eine zentrale Forderung der IG Metall. Wir brauchen eine Trennung des Investmentbanking vom Bankgeschäft mit Einlagen und Krediten. Für Verluste im Investmentbanking müssen die Aktionäre und nicht die Steuerzahler aufkommen. Zudem müssen die Banken endlich an den Kosten der Krise beteiligt werden. Das Unbehagen der Menschen ist verständlich. Hier bestehen natürlich Chancen für die Parteien.
Am 15. September veranstalteten Menschen aus allen Regionen Spaniens einen "Marsch auf Madrid". Dazu haben die spanischen Gewerkschaftsverbände UGT und CCOO aufgerufen. Sie versicherten den spanischen Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen, die für ein soziales Europa kämpfen, die Solidarität der IG Metall.
Huber: Ein vereintes Europa ohne trennende Grenzen, mit der Gewissheit auf eine friedliche Zukunft in sozialer Sicherheit und sozialem und ökonomischem Fortschritt, das ist und bleibt unser „europäischer Traum“. Doch mit der Erfahrung unserer Tage wissen wir fundierter denn je: Das Erwünschte bekommt man nicht, weil man davon träumt. Dafür muss zielbewusst gearbeitet und engagiert gestritten werden.
Der europäische Traum hat sehr wenig zu tun mit Freizügigkeit des Kapitals und einem Selbstbedienungsladen für die internationalen Finanzmärkte. Europa darf nicht nur Nutzgemeinschaft für Banken, sondern muss Schutzgemeinschaft für die Menschen sein. Das Europa, für das wir eintreten, das sind bessere Lebens- und Arbeitsperspektiven für alle Menschen. Wir pflegen ein enges Verhältnis zu den spanischen Gewerkschaften und unterstützen uns gegenseitig in unseren Bemühungen für ein soziales Europa.
Wie steht die IG Metall zur Politik des strikten Sparens der deutschen Regierung? Sind die Vorschläge von Angela Merkel für Europa falsch? Werden nicht die Wirtschaftsungleichheiten in Europa mit der Krise wachsen?
Huber: Eine einseitige Sparpolitik hat verheerende Auswirkungen auf Industrie und Beschäftigung. Sie zerstört letztendlich auch den Sozialstaat. Konsolidierung kann nur mit Wirtschaftswachstum funktionieren. Deshalb braucht Europa Investitionen in wachstumsfähige Industrien. Das trägt auch dazu bei, die Ungleichgewichte zu verringern.
Welche Zukunft hat der Sozialstaat (die sozialen Grundrechte, Kündigungsschutz, etc.) nach der Finanzkrise?
Huber: Der Sozialstaat sichert nicht nur die gesellschaftlichen Lebensrisiken für die Betroffenen ab, er ist auch ein ökonomischer Stabilitätsfaktor. Er wird viel zu sehr als Belastung und reiner Kostenfaktor gesehen. Dabei zeigt gerade die Krise, dass er auch die wirtschaftliche Nachfrage und den gesellschaftlichen Zusammenhalt stabilisieren kann. Das zeigen unsere Erfahrungen zur Überwindung der Krisensituation nach 2008 bis 2010. Deswegen hat der Sozialstaat auch nach der Finanzkrise eine große Zukunft.
Welche Maßnahmen zur Überwindung der Krise rät die IG Metall? Sie sprechen von einem Marschall Plan für die Entwicklung der südeuropäischen Länder. Wer würde den Plan finanzieren? Würden die Deutschen einverstanden sein?
Huber: Die europäischen Länder werden nur mit wettbewerbsfähigen Industrien wieder auf die Beine kommen. Alles andere ist nicht nachhaltig. Das bedeutet gezielte Investitionen in Bildung, Qualifikation, Forschung und Infrastruktur. Um die Finanzierung zu sichern, brauchen wir als erstes eine demokratisch kontrollierte Wirtschaftsregierung für Europa. Zudem brauchen wir einen neuen Lastenausgleich. Es muss ein funktionierendes gerechtes Steuersystem geschaffen werden, das auch große Vermögen und Einkommen an der Krisenbewältigung beteiligt. So kommen wir weg von dem einseitigen Sparzwang und schaffen Handlungsspielräume für einen nachhaltigen Weg aus der Krise. Wachstum wird angestoßen, das auch die Wirtschaft der südeuropäischen Länder stützt.
Die Wahrnehmung in Spanien ist: Die Deutschen wollen uns erklären, wie es läuft. Die IG Metall zeigt Verständnis für die Probleme in Spanien. Sie haben gesagt: „Das Problem des spanischen Arbeitsmarkts ist, dass er so verriegelt und die Lohnstückkosten der Metall- und Elektroindustrie Spaniens die anderer Länder deutlich übersteigen.“ Was würden Sie den spanischen Gewerkschaftern sagen, wenn die Sie um Rat fragen?
Huber: Jeder muss seine eigenen Vorstellungen weiter entwickeln. In Spanien wurden mit Jobgarantien lange Zeit nur die Menschen geschützt, die bereits in den Arbeitsmarkt integriert waren. Die Gewerkschaften müssen zudem etwas für die Zukunft der jungen Menschen tun. Es ist doch einer der eklatantesten Widersprüche unserer Zeit, dass sich die am besten ausgebildetste Generation zunehmend in prekären Beschäftigungsverhältnissen verdingen muss oder arbeitslos ist. Wenn die Hälfte der jungen Leute keine Arbeit findet, dann zerstört das den Zusammenhalt einer Gesellschaft und beschädigt ihre Zukunftsperspektiven.
Ich sage aber auch: die spanische Regierung spielt die Arbeitnehmer gegeneinander aus mit dem Ziel der tiefen Spaltung der Gesellschaft statt mit den Gewerkschaften einen kooperativen Weg der Krisenüberwindung zu suchen. Herr Rajoy muss wissen: wer gegen die Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen regiert, der wird eine zerrissene Gesellschaft ernten.
Fast jeder vierte Beschäftigte arbeitet heute im Niedriglohnsektor in Deutschland, prekäre Beschäftigung nimmt trotz hohem Fachkräftebedarf zu. Sie sagen, wir brauchen eine neue Ordnung auf dem Arbeitsmarkt, die der Arbeit ihren Wert zurückgibt. Wie soll sie aussehen?
Huber: Arbeit muss wieder mehr sein als bloße Existenzsicherung. Keine Frage, das Materielle, also die Lohnhöhe spielt eine wichtige Rolle, ist aber bei weitem nicht alles. Arbeit ist die Voraussetzung dafür, dass Menschen ihre Rechte einfordern und ihre Pflichten ausüben können. Gute Arbeit befähigt zu sozialer Teilhabe, verleiht Selbstachtung und ist Quelle von Selbstverwirklichung und Anerkennung.
Wir brauchen deshalb eine Neujustierung der Arbeitsmarktpolitik. Dazu gehört beispielsweise der Abbau atypischer Beschäftigungsverhältnisse, die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns und die Abschaffung von sachgrundlosen Befristungen. Darüber hinaus brauchen wir eine Stabilisierung des Tarifsystems. Mehr als zwei Drittel der Geringverdiener arbeiten in Betrieben ohne Tarifbindung. Tarifverträge und Mitbestimmung zahlen sich also aus.
Eine Gesellschaft, die immer ungleicher wird, sehen wir in Deutschland: prekäre Beschäftigung versus Festangestellte, gute Bildung versus schlechte Bildung und gut gesichert im Alter versus schlecht gesichert im Alter. Aber Deutschland verkauft sich als Vorbild. Würde Spanien mit einer spanischen Agenda 2010 florieren?
Huber: Man kann nicht alle europäischen Länder über einen Kamm scheren. Es gibt keine pauschalen Lösungen. Die Agenda 2010 ist kein Exportschlager. In Deutschland hat die Agenda 2010 zu einer tiefen Spaltung des Arbeitsmarktes beigetragen. In Deutschland sind heute knapp zehn Millionen Menschen atypisch beschäftigt. 23 Prozent aller Beschäftigten arbeitet für einen Niedriglohn. Deutschland hat heute zwei Klassen von Beschäftigten.
Während sich die einen in einem festen Arbeitsverhältnis mit einem meist ausreichenden Lohn befinden und sozialversicherungsrechtlich abgesichert sind, befinden sich die anderen oftmals in prekären Arbeitsverhältnissen, in denen sie sich unter Wert verkaufen müssen und in einem Zustand der permanenten Unsicherheit sind.
Sie denken, dass viele deutsche Firmen sich nicht auf eine neue Krise vorbereiten. Warum?
Huber: Viele Unternehmen sind nicht ausreichend auf die unterschiedlichen Szenarien vorbereitet. Die deutsche Industrie hat in den Jahren 2010 bis heute gute Geschäfte und noch bessere Gewinne gemacht. Da glauben dann viele, das ginge ewig so weiter. Der heutige Kapitalismus ist allerdings anfälliger für tiefe Krisen. Das ist eine Folge der unkontrollierten Finanzmärkte mit ihrer Zukunftsblindheit.
Ich sitze ja bei einigen großen Unternehmen im Aufsichtsrat. Dort habe ich mal gefragt, wie lange nach Meinung des Vorstands der nächste Einbruch dauern wird. Dazu lag keine Einschätzung vor. Des Weiteren habe ich gefragt, was ein solcher Einbruch für Auslastung und Beschäftigung bedeuten würde. Auch dazu lag keine Einschätzung vor. In einer zunehmend volatilen Wirtschaft erwarte ich das aber vom Management.
Hintergrund:
- Positionspapier: Kurswechsel für ein solidarisches Europa
- Resolution auf Englisch: Change of course for European solidarity