Das "klassische" Normalarbeitsverhältnis steht unter Druck. Prekäre und schlecht bezahlte Arbeit beschädigen die Grundpfeiler der Arbeitsmarktordnung. Zeit für eine neue Ordnung auf dem Arbeitsmarkt. Wie die aussehen kann und welchen Beitrag Gewerkschaften dazu leisten können, darüber diskutierten die Teilnehmer des Kurswechsel-Kongresses im Forum „Zukunft der Arbeitsgesellschaft“.
Hat das Normalarbeitsverhältnis eine Zukunft? Mit dieser Frage eröffnete Gerhard Bosch das Forum. Der Arbeitsmarktexperte von der Universität Duisburg-Essen kommt zu dem Schluss, dass es ein ganzes Bündel an Maßnahmen braucht, um den aus den Fugen geratenen Arbeitsmarkt neu zu ordnen.
Die Ordnung der Sozialen Marktwirtschaft
Bosch stellt fest, dass sich die Arbeitsmarktordnung der Sozialen Marktwirtschaft (Motto: "Wohlstand für alle") aufgelöst hat. Merkmale seien die Verknüpfung von hoher wirtschaftlicher Effizienz und Leistungsbereitschaft auf der einen sowie gesellschaftlicher Solidarität auf der anderen Seite gewesen. Eine hohe Tarifbindung (ca. 80%) und der allgemeine Grundsatz "gleicher Lohn für gleiche Arbeit" sicherten die finanzielle Basis der einkommenspolitischen Mitte. Das Normalarbeitsverhältnis – die unbefristete Festanstellung in Vollzeit mit geregeltem Entgelt – war die Regel. Das sei allerdings nicht vom Himmel gefallen, sondern das Ergebnis gewerkschaftlicher Stärke und oft auch harter Auseinandersetzungen gewesen.
Neoliberaler Paradigmenwechsel
Seit den 1990er Jahren habe, so Bosch, allerdings ein neoliberaler Paradigmenwechsel eingesetzt, der zur Zunahme von schlecht bezahlter und unsicherer Arbeit geführt hat. Neu daran sei gewesen, dass prekäre Arbeit das „klassische“ Normalarbeitsverhältnis zu verdrängen begann. Bosch kommt zu dem Schluss: „Die Grundpfeiler der alten Arbeitsmarktordnung sind beschädigt“. Die Ursachen sieht er in der Tarif- und Verbandsflucht der Unternehmen, Outsourcing, Privatisierung, der Deregulierung der Arbeitsmärkte sowie der Einschränkung von Sozialleistungen (Hartz-Gesetze).
Billig-Strategie geht nicht auf
Doch billige Arbeit komme die Gesellschaft teuer zu stehen, warnt Bosch. Allein 2010 habe der deutsche Staat 11,5 Milliarden Euro aufwenden müssen, um Niedriglöhne auf ein existenzsicherndes Niveau aufzustocken. Dahinter verberge sich auch ein langfristiges Problem: Niedrige Löhne heute produzieren Armutsrenten im Alter, die dann wiederum vom Staat aufgestockt werden müssten.
Aber selbst die Unternehmen profitierten nicht von der prekären Billig-Strategie, da ihre Produktivität darunter leide. Boschs Fazit: „Im Innovationswettbewerb der nächsten Jahrzehnte kann Deutschland mit einem Leitbild billiger Arbeit nicht erfolgreich sein.“
Leitbild und Maßnahmen zur Neuordnung
Für einen Kurswechsel hin zu einer neuen Arbeitsmarktordnung brauche es deshalb ein neues Leitbild:
- Sozial abgesicherte, flexible Erwerbsverläufe für Männer und Frauen mit Ansprüchen auf kürzere Arbeitszeit und Unterbrechungen bei Elternschaft, Pflege und Weiterbildu
- Gute Arbeitsbedingungen, die angemessen bezahlte Erwerbstätigkeit bis zur Rente ermöglichen
- Innovationsfähigkeit und Flexibilität: Dazu gehören gute Ausbildung sowie zeitliche und funktionale Flexibilität.
Zur Umsetzung dieses Leitbildes schlägt Gerhard Bosch ein ganzes Maßnahmenbündel vor:
- Ein allgemeiner Mindestlohn, der höhere Branchenmindestlöhne nicht ausschließt
- Equal Pay für Leiharbeit und Abschaffung des Sonderstatus der Minijobs
- Die Stabilisierung des Tarifsystems und eine leichtere Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Tarifverträgen
- Ein Verbandsklagerecht für Gewerkschaften bei Tarif- oder Gesetzesverstößen und stärkere individuelle Beschwerderechte
- Den Ausbau individueller Wahlrechte der Beschäftigten für mehr Flexibilität in ihrem Interesse
- Eine Qualifizierungsoffensive, um den Anteil der gering Qualifizierten weiter zu reduzieren.
Die Neuordnung des Arbeitsmarktes sei es allerdings kein rein nationales Projekt, schloss Bosch. Sie müsse ergänzt werden durch eine europäische Sozial-Agenda, die Mindestlöhne und Tarifverträge unantastbar mache.
Das "Europäische Sozialmodell"
James Wickham vertiefte diesen europäischen Aspekt. Die Rahmenbedingungen für Arbeit in Europa standen im Zentrum der Betrachtung des Professors für Europäische Arbeitsmarktstudien am Trinity College Dublin. Zwischen den europäischen Staaten existieren laut Wigham institutionelle und normative Gemeinsamkeiten, aus denen sich bisher ein „Europäisches Sozialmodell“ ableiten lasse. Als Elemente dieses Modells beschreibt Wickham:
- eine relative Gleichheit in der Gesellschaft
- eine soziale Staatsbürgerschaft (Erziehung, Gesundheit, soziale Rechte, ein Steuersystem)
- eine ökonomische Staatsbürgerschaft (Arbeitsmarktregulierung, Vorschriften zum Arbeitsschutz, Organisationsfreiheit)
- den Nationalstaat als Garanten von sozialem Ausgleich und sozialen Rechten sowie als Anbieter staatlicher Dienstleistungen
Neoliberale Politik und die Krise in Europa bedrohten nun das Europäische Sozialmodell. Wickham sieht einen negativen europäischen Integrationsprozess am Werk, der die nationalen Wohlfahrtsstaaten untergräbt, ohne auf europäischer Ebene einen Ausgleich zu schaffen. Treibende Kraft dabei sei die EU. Die Lösung liegt für Wickham in einer positiven Wendung der europäischen Integration hin zu einer gemeinsamen europäischen Sozialpolitik.
Arbeits- und Sozialrechtliche Mindestnormen
Die globale Dimension brachte Frank Hoffer, Senior Research Officer der ILO, in die Diskussion ein. Hoffer betonte, dass internationale Rahmenabkommen über die in den Kernarbeitsnormen definierten menschenrechtlichen Mindeststandards hinaus einen Beitrag zu einem internationalen Kurswechsel in den Arbeitsbeziehungen leisten können.
Er argumentierte, dass die Arbeits- und Sozialrechtlichen Mindestnormen zur Bestimmung des Arbeitsverhältnisses (z.B. Regelungen zur Scheinseltständigkeit, Leiharbeit), Mindestlöhnen, Kündigungsschutz, Arbeitsklauseln bei öffentlicher Auftragsvergabe sowie zu sozialer Sicherheit und sozialem Basisschutz einen Beitrag zur Gestaltung der Arbeitsbeziehungen auch der Mittelschicht in entwickelten Ländern wie Deutschland leisten können. Dabei wies er darauf hin, dass Deutschland eine Reihe dieser Normen noch immer nicht ratifiziert habe. Frank Hoffer forderte deshalb von Staaten und Konzernen – aber auch von den Gewerkschaften – mehr Anstrengungen zur Durchsetzung und Ausweitung internationaler Regelungen.
Was können Gewerkschaften tun?
"Für mich ist jetzt die zentrale Frage: Was können wir tun?", leitete Detlef Wetzel, Zweiter Vorsitzender der IG Metall, seine abschließende Betrachtung des Forums ein. Er nehme eine – wie von den Referenten des Forums geschildert – zunehmende Fragmentierung des Arbeitsmarktes, aber auch der Gesellschaft als Ganzes wahr, berichtete Wetzel. Für Gewerkschaften stelle sich nun die Frage, ob sie sich um das Ganze oder lediglich um ausgewählte Fragmente kümmern wollen und ob sie es überhaupt können. Für ihn sei es klar, so Wetzel: Der "Job der Gewerkschaften" sei es, das Ganze im Blick und durch ihr Tun auf der Tagesordnung zu halten.
Auf die eigene Stärke setzen
In der Debatte um staatliche Interventionen auf dem Arbeitsmarkt machte Wetzel den anwesenden Gewerkschaftern Mut, auf die eigene Stärke zu setzen, um ihre Angelegenheiten zu regeln. Der Staat werde es nicht – im Sinne der Beschäftigten – richten. Man dürfe sich aber auch nichts vormachen, appellierte Wetzel, um auf die eigene Stärke vertrauen zu können, müssten die Gewerkschaften insgesamt durchsetzungsfähiger werden. Aus diesem Grund halte er die Mitgliederfrage für die politischste Frage überhaupt. Sie entscheide über ihre Fähigkeit der Gewerkschaften, Politik gestalten zu können.
Schlussfolgerungen für die IG Metall
Aus der Diskussion im Forum zog Detlef Wetzel drei Schlussfolgerungen für die Strategie der IG Metall, eine neue Ordnung auf dem Arbeitsmarkt herbeizuführen:
- Da die Tarifbindung für eine Neuordnung des Arbeitsmarktes sehr wichtig sei, müsse es die vornehmliche Aufgabe der IG Metall sein, diese zu stärken und auszubauen.
- Das Aushebeln von Mitbestimmung im Betrieb und die Fragmentierung der Belegschaften durch Outsourcing über Werkverträge müsse stärker in den Fokus der IG Metall rücken.
- Da die Neuordnung des Arbeitsmarktes kein rein nationales Projekt sei und sich die Durchsetzungsfähigkeit der europäischen Gewerkschaften stark unterscheide, müssten alle Gewerkschaften Wege finden, ihre Mitgliederbasis auszubauen, um national wie international die notwendige Durchsetzungskraft zu erringen.
Zum Weiterlesen
Präsentation Gerhard Bosch [ mehr... ]
Präsentation James Wickham [ mehr... ]
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