Quo vadis Normalarbeitsverhältnis? Für eine Neuordnung des Arbeitsmarktes

Detlef Wetzel. Foto: Christian von Polentz

Detlef Wetzel. Foto: Christian von Polentz

Das "klas­si­sche" Normalarbeitsverhältnis steht unter Druck. Prekäre und schlecht bezahlte Arbeit beschä­di­gen die Grundpfeiler der Arbeitsmarktordnung. Zeit für eine neue Ordnung auf dem Arbeitsmarkt. Wie die aus­se­hen kann und wel­chen Beitrag Gewerkschaften dazu leis­ten kön­nen, dar­über dis­ku­tier­ten die Teilnehmer des Kurswechsel-Kongresses im Forum „Zukunft der Arbeitsgesellschaft“.

Hat das Normalarbeitsverhältnis eine Zukunft? Mit die­ser Frage eröff­nete Gerhard Bosch das Forum. Der Arbeitsmarktexperte von der Universität Duisburg-Essen kommt zu dem Schluss, dass es ein gan­zes Bündel an Maßnahmen braucht, um den aus den Fugen gera­te­nen Arbeitsmarkt neu zu ordnen.


Die Ordnung der Sozialen Marktwirtschaft
Bosch stellt fest, dass sich die Arbeitsmarktordnung der Sozialen Marktwirtschaft (Motto: "Wohlstand für alle") auf­ge­löst hat. Merkmale seien die Verknüpfung von hoher wirt­schaft­li­cher Effizienz und Leistungsbereitschaft auf der einen sowie gesell­schaft­li­cher Solidarität auf der ande­ren Seite gewe­sen. Eine hohe Tarifbindung (ca. 80%) und der all­ge­meine Grundsatz "glei­cher Lohn für glei­che Arbeit" sicher­ten die finan­zi­elle Basis der ein­kom­mens­po­li­ti­schen Mitte. Das Normalarbeitsverhältnis – die unbe­fris­tete Festanstellung in Vollzeit mit gere­gel­tem Entgelt  – war die Regel. Das sei aller­dings nicht vom Himmel gefal­len, son­dern das Ergebnis gewerk­schaft­li­cher Stärke und oft auch har­ter Auseinandersetzungen gewesen.

Neoliberaler Paradigmenwechsel
Seit den 1990er Jahren habe, so Bosch, aller­dings ein neo­li­be­ra­ler Paradigmenwechsel ein­ge­setzt, der zur Zunahme von schlecht bezahl­ter und unsi­che­rer Arbeit geführt hat. Neu daran sei gewe­sen, dass pre­käre Arbeit das „klas­si­sche“ Normalarbeitsverhältnis zu ver­drän­gen begann. Bosch kommt zu dem Schluss: „Die Grundpfeiler der alten Arbeitsmarktordnung sind beschä­digt“. Die Ursachen sieht er in der Tarif- und Verbandsflucht der Unternehmen, Outsourcing, Privatisierung, der Deregulierung der Arbeitsmärkte sowie der Einschränkung von Sozialleistungen (Hartz-Gesetze).

Billig-Strategie geht nicht auf
Doch bil­lige Arbeit komme die Gesellschaft teuer zu ste­hen, warnt Bosch. Allein 2010 habe der deut­sche Staat 11,5 Milliarden Euro auf­wen­den müs­sen, um Niedriglöhne auf ein exis­tenz­si­chern­des Niveau auf­zu­sto­cken. Dahinter ver­berge sich auch ein lang­fris­ti­ges Problem: Niedrige Löhne heute pro­du­zie­ren Armutsrenten im Alter, die dann wie­derum vom Staat auf­ge­stockt wer­den müssten.

Aber selbst die Unternehmen pro­fi­tier­ten nicht von der pre­kä­ren Billig-Strategie, da ihre Produktivität dar­un­ter leide. Boschs Fazit: „Im Innovationswettbewerb der nächs­ten Jahrzehnte kann Deutschland mit einem Leitbild bil­li­ger Arbeit nicht erfolg­reich sein.“

Leitbild und Maßnahmen zur Neuordnung

Für einen Kurswechsel hin zu einer neuen Arbeitsmarktordnung brau­che es des­halb ein neues Leitbild:

  • Sozial abge­si­cherte, fle­xi­ble Erwerbsverläufe für Männer und Frauen mit Ansprüchen auf kür­zere Arbeitszeit und Unterbrechungen bei Elternschaft, Pflege und Weiterbildu
  • Gute Arbeitsbedingungen, die ange­mes­sen bezahlte Erwerbstätigkeit bis zur Rente ermöglichen
  • Innovationsfähigkeit und Flexibilität: Dazu gehö­ren gute Ausbildung sowie zeit­li­che und funk­tio­nale Flexibilität.

Zur Umsetzung die­ses Leitbildes schlägt Gerhard Bosch ein gan­zes Maßnahmenbündel vor:

  • Ein all­ge­mei­ner Mindestlohn, der höhere Branchenmindestlöhne nicht ausschließt
  • Equal Pay für Leiharbeit und Abschaffung des Sonderstatus der Minijobs
  • Die Stabilisierung des Tarifsystems und eine leich­tere Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Tarifverträgen
  • Ein Verbandsklagerecht für Gewerkschaften bei Tarif- oder Gesetzesverstößen und stär­kere indi­vi­du­elle Beschwerderechte
  • Den Ausbau indi­vi­du­el­ler Wahlrechte der Beschäftigten für mehr Flexibilität in ihrem Interesse
  • Eine Qualifizierungsoffensive, um den Anteil der gering Qualifizierten wei­ter zu reduzieren.

Die Neuordnung des Arbeitsmarktes sei es aller­dings kein rein natio­na­les Projekt, schloss Bosch. Sie müsse ergänzt wer­den durch eine euro­päi­sche Sozial-Agenda, die Mindestlöhne und Tarifverträge unan­tast­bar mache.

Das "Europäische Sozialmodell"
James Wickham ver­tiefte die­sen euro­päi­schen Aspekt. Die Rahmenbedingungen für Arbeit in Europa stan­den im Zentrum der Betrachtung des Professors für Europäische Arbeitsmarktstudien am Trinity College Dublin. Zwischen den euro­päi­schen Staaten exis­tie­ren laut Wigham insti­tu­tio­nelle und nor­ma­tive Gemeinsamkeiten, aus denen sich bis­her ein „Europäisches Sozialmodell“ ablei­ten lasse. Als Elemente die­ses Modells beschreibt Wickham:

  • eine rela­tive Gleichheit in der Gesellschaft
  • eine soziale Staatsbürgerschaft (Erziehung, Gesundheit, soziale Rechte, ein Steuersystem)
  • eine öko­no­mi­sche Staatsbürgerschaft (Arbeitsmarktregulierung, Vorschriften zum Arbeitsschutz, Organisationsfreiheit)
  • den Nationalstaat als Garanten von sozia­lem Ausgleich und sozia­len Rechten sowie als Anbieter staat­li­cher Dienstleistungen

Neoliberale Politik und die Krise in Europa bedroh­ten nun das Europäische Sozialmodell. Wickham sieht einen nega­ti­ven euro­päi­schen Integrationsprozess am Werk, der die natio­na­len Wohlfahrtsstaaten unter­gräbt, ohne auf euro­päi­scher Ebene einen Ausgleich zu schaf­fen. Treibende Kraft dabei sei die EU. Die Lösung liegt für Wickham in einer posi­ti­ven Wendung der euro­päi­schen Integration hin zu einer gemein­sa­men euro­päi­schen Sozialpolitik.

Arbeits- und Sozialrechtliche Mindestnormen
Die glo­bale Dimension brachte Frank Hoffer, Senior Research Officer der ILO, in die Diskussion ein. Hoffer betonte, dass inter­na­tio­nale Rahmenabkommen über die in den Kernarbeitsnormen defi­nier­ten men­schen­recht­li­chen Mindeststandards hin­aus einen Beitrag zu einem inter­na­tio­na­len Kurswechsel in den Arbeitsbeziehungen leis­ten können.

Er argu­men­tierte, dass die Arbeits- und Sozialrechtlichen Mindestnormen zur Bestimmung des Arbeitsverhältnisses (z.B. Regelungen zur Scheinseltständigkeit, Leiharbeit), Mindestlöhnen, Kündigungsschutz, Arbeitsklauseln bei öffent­li­cher Auftragsvergabe sowie zu sozia­ler Sicherheit und sozia­lem Basisschutz einen Beitrag zur Gestaltung der Arbeitsbeziehungen auch der Mittelschicht in ent­wi­ckel­ten Ländern wie Deutschland leis­ten kön­nen. Dabei wies er dar­auf hin, dass Deutschland eine Reihe die­ser Normen noch immer nicht rati­fi­ziert habe. Frank Hoffer for­derte des­halb von Staaten und Konzernen – aber auch von den Gewerkschaften – mehr Anstrengungen zur Durchsetzung und Ausweitung inter­na­tio­na­ler Regelungen.

Was kön­nen Gewerkschaften tun?
"Für mich ist jetzt die zen­trale Frage: Was kön­nen wir tun?", lei­tete Detlef Wetzel, Zweiter Vorsitzender der IG Metall, seine abschlie­ßende Betrachtung des Forums ein. Er nehme eine – wie von den Referenten des Forums geschil­dert – zuneh­mende Fragmentierung des Arbeitsmarktes, aber auch der Gesellschaft als Ganzes wahr, berich­tete Wetzel. Für Gewerkschaften stelle sich nun die Frage, ob sie sich um das Ganze oder ledig­lich um aus­ge­wählte Fragmente küm­mern wol­len und ob sie es über­haupt kön­nen. Für ihn sei es klar, so Wetzel: Der "Job der Gewerkschaften" sei es, das Ganze im Blick und durch ihr Tun auf der Tagesordnung zu halten.

Auf die eigene Stärke set­zen
In der Debatte um staat­li­che Interventionen auf dem Arbeitsmarkt machte Wetzel den anwe­sen­den Gewerkschaftern Mut, auf die eigene Stärke zu set­zen, um ihre Angelegenheiten zu regeln. Der Staat werde es nicht – im Sinne der Beschäftigten – rich­ten. Man dürfe sich aber auch nichts vor­ma­chen, appel­lierte Wetzel, um auf die eigene Stärke ver­trauen zu kön­nen, müss­ten die Gewerkschaften ins­ge­samt durch­set­zungs­fä­hi­ger wer­den. Aus die­sem Grund halte er die Mitgliederfrage für die poli­tischste Frage über­haupt. Sie ent­scheide über ihre Fähigkeit der Gewerkschaften, Politik gestal­ten zu können.

Schlussfolgerungen für die IG Metall
Aus der Diskussion im Forum zog Detlef Wetzel drei Schlussfolgerungen für die Strategie der IG Metall, eine neue Ordnung auf dem Arbeitsmarkt herbeizuführen:

  1. Da die Tarifbindung für eine Neuordnung des Arbeitsmarktes sehr wich­tig sei, müsse es die vor­nehm­li­che Aufgabe der IG Metall sein, diese zu stär­ken und auszubauen.
  2. Das Aushebeln von Mitbestimmung im Betrieb und die Fragmentierung der Belegschaften durch Outsourcing über Werkverträge müsse stär­ker in den Fokus der IG Metall rücken.
  3. Da die Neuordnung des Arbeitsmarktes kein rein natio­na­les Projekt sei und sich die Durchsetzungsfähigkeit der euro­päi­schen Gewerkschaften stark unter­scheide, müss­ten alle Gewerkschaften Wege fin­den, ihre Mitgliederbasis aus­zu­bauen, um natio­nal wie inter­na­tio­nal die not­wen­dige Durchsetzungskraft zu erringen.
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