Arm und Reich in Deutschland

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Michael Hartmann, Professor für Soziologie, Technische Universität Darmstadt

Wenn man inter­na­tio­nale Vergleichsstudien anschaut, fällt auf, dass Deutschland in der inter­na­tio­na­len Rangskala sei­nen Platz voll­kom­men ver­än­dert hat. Wir hat­ten bis in die 1990er-Jahre ver­gleichs­weise geringe Einkommensunterschiede, wir lagen ver­gleichs­weise nah an den skan­di­na­vi­schen Ländern, die in inter­na­tio­na­len Vergleichsstudien in die­ser Hinsicht immer am bes­ten dastehen.

Wir haben in den zehn Jahren von 2000 bis 2010 in ganz Europa ganze zwei Länder, in denen die Kluft zwi­schen hohen und nied­ri­gen Einkommen noch schnel­ler aus­ein­an­der­ge­gan­gen ist als in Deutschland, und diese zwei Länder sind Bulgarien und Rumänien.

Wie konnte das pas­sie­ren?
Wir haben ein deut­li­ches Schrumpfen der mitt­le­ren Einkommensschichten. Das sind die Einkommensgruppen, die zwi­schen 70 und 130 Prozent des Durchschnittseinkommens ver­die­nen. Die mitt­le­ren Einkommensschichten haben von 2000 bis 2010 von 63,8 auf 58,2 Prozent abge­nom­men. Das sind über 5 Prozent, und hin­ter denen ver­ber­gen sich circa 4,5 Millionen Menschen. Ein klei­ner Teil ist nach oben gegan­gen, näm­lich circa 10 Prozent von die­sen 4,5 Millionen. Ungefähr 3,5 Millionen sind dage­gen in die unterste Einkommensgruppe abge­stie­gen. Das ist eine so dra­ma­ti­sche Entwicklung, dass man sich aus poli­ti­schen Gründen, aus gesund­heit­li­chen Gründen, aus Bildungsgründen, aus ganz vie­len Gründen fra­gen muss: Wie konnte so etwas passieren?

Wir haben in den unte­ren vier Zehnteln zudem Reallohnsenkungen bin­nen zehn Jahren zwi­schen 13 und 23 Prozent. Das heißt, das unterste Zehntel ist nicht nur grö­ßer gewor­den, das unterste Zehntel ist, was die Einkommen angeht, bin­nen eines Jahrzehnts um fast ein Viertel ärmer gewor­den. Wir haben bin­nen zehn Jahren nicht nur etwas mehr Reiche und sehr viel mehr Arme, son­dern die Reichen sind erheb­lich rei­cher und die Armen deut­lich ärmer geworden.

Konsequenzen
Ich komme jetzt zu den Konsequenzen: Wie wirkt sich das auf die Gesundheit der Bevölkerung aus? Ich nehme zwei Gruppen: Die eine Gruppe ist die, die man in der Statistik als arm bezeich­net. Die ande­ren sind die Wohlhabenden. Die Armen sind mehr als dop­pelt so häu­fig in kei­nem so guten Gesundheitszustand wie die Wohlhabenden. Dazu kommt, dass die­ser Unterschied sich in den letz­ten zehn Jahren ver­stärkt hat. Das heißt, die mate­ri­elle Entwicklung schlägt sich lang­sam aber sich auch im Gesundheitszustand nie­der. Es schlägt sich auch in der Lebenserwartung nie­der. Wenn Sie zu den armen Bevölkerungsschichten gehö­ren, haben Sie als Mann eine Lebenserwartung von 70 Jahren. Gehören Sie zu den Wohlhabenden, haben Sie eine Lebenserwartung von 81. Auch Bildung hat mit Armut zu tun. Statistische Untersuchungen zei­gen ein­deu­tig, dass auch bei glei­chen intel­lek­tu­el­len Voraussetzungen Armut sich nega­tiv auf Bildungskarrieren aus­wirkt. Sie wirkt sich auf Berufskarrieren aus.

Ursachen
Warum haben wir in Deutschland in einem so kur­zen Zeitraum so dras­ti­sche Veränderungen erlebt? Alle diese Entwicklungen, die ich eben skiz­ziert habe, haben sich abge­spielt zwi­schen 2000 und 2006. Der Niedriglohnsektor ist seit 2006 weit­ge­hend sta­bil mit Schwankungen durch die Wirtschafts- und Finanzkrise. Die Armutsquote lag 2006 schon bei 14,2 Prozent, das heißt, vier Fünftel der Steigerung im letz­ten Jahrzehnt sind in den ers­ten sechs Jahren erfolgt.

Was cha­rak­te­ri­siert diese sechs Jahre poli­tisch? Das sind die Hartz-Reformen zwi­schen 2003 und 2006. Das hat zu mas­si­ven Veränderungen in der unte­ren Hälfte der Bevölkerung geführt. Die wesent­li­che Ursache für die Zunahme von Armut in Deutschland, vor allem für die schnelle Zunahme von Armut, ist also nicht zu suchen in dem, was man all­ge­mein als Erklärung bekommt, näm­lich in der Globalisierung, die Arbeitsplätze ver­nich­tet. Das spielt sicher­lich eine Rolle, aber eben auch für andere Länder. Die Niederlande, die skan­di­na­vi­schen Länder oder Öster­reich sind eben­falls in den Weltmarkt inte­griert, aber sie haben diese Entwicklung in Bezug auf Armut nicht mit vollzogen.

Erleichterungen für Reiche
Auf der ande­ren Seite hat es durch alle Regierungen hin­durch, von rot-grün bis jetzt zu schwarz-gelb, per­ma­nente Erleichterungen für die Reichen gege­ben und unter der jet­zi­gen schwarz-gelben Regierung war die letzte maß­geb­li­che Veränderung die deut­li­che Senkung und zum Teil Abschaffung der Erbschaftssteuer. Es wer­den enorme Summen ver­erbt. Alleine zwi­schen 2010 und 2020 in der Bundesrepublik 2,6 Billionen Euro. Die große Masse davon ent­fällt auf die obe­ren zehn Prozent. Es gibt pro Jahr ganze 0,2 Prozent der Erbfälle, die ober­halb einer Grenze von 250.000 Euro lie­gen. Das heißt, die Senkung der Erbschaftssteuer begüns­tigt nicht die unte­ren 90 Prozent der Bevölkerung, die sind meis­tens schon durch Freibeträge von die­ser Steuer gar nicht betroffen.

Die Senkung der Erbschaftssteuer betrifft die obe­ren zehn Prozent, ganz mas­siv das obere Prozent und vor allem Erben von Firmenvermögen. Und da geht es eben nicht um den klei­nen mit­tel­stän­di­schen Unternehmer mit 30 Beschäftigten, der den Betrieb dicht machen müsste, wenn er sein Eigentum an seine Kinder ver­erbt, son­dern es geht zum Teil um Milliardenvermögen. Angefangen hat das wäh­rend der gro­ßen Koalition, Schwarz-Gelb hat es fort­ge­setzt. Die haben die Erbschaftssteuer in vie­len Bereichen abgeschafft.

Die Kluft wächst
Das heißt, die Kluft, was die Vermögen angeht, wird enorm wach­sen, und diese Kluft ist heut­zu­tage schon viel grö­ßer, als man glaubt. In den USA besitzt das oberste Prozent der Bevölkerung 40 Prozent des Gesamtvermögens. Wir haben in Deutschland inzwi­schen auf das obere Prozent der Bevölkerung kon­zen­triert 35,8 Prozent des Gesamtvermögens.

Wo führt das hin?

Die Konsequenzen, wenn das so wei­ter­geht wie in den letz­ten zehn Jahren, hat man in Großbritannien beob­ach­ten kön­nen bei den Riots letz­tes Jahr. Das bedeu­tet für die Gesellschaft, sie hat enorme Kosten an einem Ende, wo sie frü­her nicht exis­tiert haben, und sie wird Kosten umver­la­gern müs­sen. Und das ist dann der letzte Punkt, weil er beson­ders dra­ma­tisch ist, das kann man in den USA sehen: Wir erle­ben in den USA eine Entwicklung, wo an der Bildung gespart wird, damit man die Gefängnisse bezah­len kann. Drastisch ist das in Kalifornien: In Kalifornien hat sich bin­nen zehn Jahren das Verhältnis zwi­schen Kosten für Gefängnisse und für Hochschulen umge­dreht. In Kalifornien wird inzwi­schen 1,5 Mal soviel für Gefängnisse wie für Hochschulen ausgegeben.

Von Michael Hartmann

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