Auf die Krise in Europa kennen die Regierungen nur eine Antwort: Die Kosten müssen runter. Unter dem Spardiktat der Troika kürzen die Krisenländer Löhne und Sozialleistungen. Konservative Regierungen wie in Spanien nutzen sie als Vorwand, um Arbeitnehmerrechte abzubauen. Gewerkschafter in ganz Europa alarmiert diese Entwicklung. Wie sie die Krise und ihre Bekämpfung beurteilen und was sich ändern muss, diskutierten sie beim Kurswechselkongress der IG Metall.
An der Diskussion nahmen teil: Philippe Lamberts, Abgeordneter der Grünen im Europaparlament, Nicola Vendola, Präsident der italienischen Region Apulien, Francois Chérèque, Generalsekretär des Französischen Gewerkschaftsbunds CFDT, Judith Kirton-Darling, politische Sekretärin des Europäischen Gewerkschaftsbunds, Manuel Fernàndez López, Generalsekretär der spanischen Metallgewerkschaft MCA-UGT, und Josef Stredula, Vorsitzender der tschechischen Metallgewerkschaft OS KOVO.
Was die Linke vom ehemaligen brasilianischen Präsidenten Lula lernen kann:
Nicola Vendola: Er hat eine autonome Meinung. Das hat die Linke in den vergangenen Jahren verloren. Sie hat sich zu sehr dem Markt untergeordnet und das hat sie in eine Krise geführt. Die Öffentlichkeit schreibt die Kompetenz in Wirtschaftsfragen immer noch dem konservativen Lager zu, nicht der Linken.
Kompetent oder nicht kompetent:
Philippe Lamberts: Wenn ich sehe, was die Konservativen in Europa tun, fällt es mir schwer, ihre Kompetenz zu erkennen. Ihre Lösung für die Krise heißt: Sie senken die Ausgaben, sie machen die Reichen reicher. Dann, sagen sie, komme das Wirtschaftswachstum von allein. So haben sie es in Griechenland gemacht. Erst sollte das Wachstum 2011 kommen, dann 2012 und jetzt 2013. Aber es kam nicht. Wie können wir das kompetent nennen?
Vendola: Ich bin nicht gegen Sparen. Aber ich bin gegen Austeritätspolitik. Sie hat den sozialen Fahrstuhl für die jungen Menschen angehalten. Die Mittelschicht rutscht ab. Die soziale Krise könnte auf eine demokratische Krise treffen. Austeritätspolitik ist gefährlich.
Wir haben in Apulien in Kultur investiert und uns für den Sozialstaat eingesetzt. Das Ergebnis: Wir haben in den vergangenen Jahren neue Arbeitsplätze geschaffen. Das schafft die Finanzwelt nicht. Sie betreibt Kannibalismus. Sie frisst die Zukunft unserer Kinder.
Was der Linken fehlt, um zu überzeugen:
Lamberts: Es ist ein Glaubwürdigkeitsproblem. Kaum jemand zweifelt an der Kompetenz der Grünen beim Umweltschutz. Bei sozialen Themen müssen wir noch Kompetenz gewinnen. Die Sozialdemokraten haben ihre Wurzeln vergessen. Peer Steinbrück ist für mich niemand, der die soziale Idee verkörpert. Wer dienstags grau und donnerstags schwarz sagt, dem glaubt keiner mehr, wenn er am Montag rot sagt. Wenn sich in Europa etwas ändern soll, brauchen wir aber eine rot-grüne Regierung in Deutschland.
Francois Chérèque: Wenn ich das höre, muss ich glücklich sein. Schließlich haben wir in Frankreich eine linke Regierung. Aber so einfach ist das nicht. Die Regierung hat einiges positiv verändert, bei der Rente, bei der Verbrauchssteuer. Andererseits haben wir ein Haushaltsdefizit. Deshalb will die Regierung jetzt alle Steuern anheben. Ob die Linke oder die Rechte regiert, die Rolle der Gewerkschaft bleibt gleich.
Manuel Fernàndez López: Es gibt einen Unterschied zwischen konservativen und linken Regierungen. Auch bei uns in Spanien hat die linke Regierung bereits Einschnitte gemacht. Aber da gab es noch Grenzen. Die jetzige Regierung nutzt die Krise als Vorwand für Rückschritte.
Judith Kirton-Darling: Wir müssen unsere Stimme stärker machen. Was wir zurzeit erleben, könnte ein Hartz-IV-Programm für ganz Europa werden. Wenn Europa dieser Agenda folgt, wird es eine starke Abwärtsspirale geben. Auf diese ideologische Agenda müssen wir Gewerkschaften eine ideologische Antwort geben. Dazu gehören die Forderungen, die wir hier auf dem Kongress gehört haben. Wir müssen alle für diese Forderungen mobilisieren.
Was Europa braucht, was Europa nicht braucht:
Chérèque: Im Moment haben wir in Europa einen Wettbewerb zwischen den Ländern. Die südlichen Länder haben die Löhne gesenkt. Nun werden Arbeitsplätze dorthin verlagert. In Deutschland gibt es keinen Mindestlohn. Deshalb wandern Arbeitsplätze von Frankreich nach Deutschland. Das ist Sozialdumping zwischen Frankreich und Deutschland. Wir müssen die Probleme auf europäischer Ebene lösen. Dazu brauchen wir:
- Vergemeinschaftung der Schulden
- einen Mindestlohn
- einen gemeinsamen europäischen Arbeitsmarkt
- eine wirkliche soziale Demokratie in den Unternehmen
Auch bei uns gibt es Leute, die keine Vergemeinschaftung der Schulden wollen. Sie sagen: ,Wir wollen nicht die Schulden der Griechen bezahlen.‘ Aber darum geht es nicht. Es geht darum, die Spekulation zu verhindern.
Wir brauchen einen europäischen Haushalt, gemeinsame Forschung und Innovationen. Es funktioniert nicht, wenn in Europa jeder seinen eigenen Energiebrei kocht.
Lambert: Die Vergemeinschaftung der Schulden ist richtig. Aber solange in Brüssel Berlin regiert, werden wir sie nicht bekommen. Die deutsche Regierung will das nicht. Deutschland ist ein Geberland. Das ist aber nur die eine Seite. Aufgrund der Krise leiht sich Deutschland Geld zu negativen Zinsen. Damit macht das Land Gewinn. Diesen Gewinn muss man von dem Betrag abziehen, den man zahlt. Es wird für Deutschland keine Zukunft geben, wenn das übrige Europa nicht gut dasteht.
López: Frau Merkel macht einen Riesenfehler. Es gibt eine Alternative zu der derzeitigen Politik in Europa. Aber der Impuls dafür müsste aus Deutschland kommen. Wir brauchen mehr Politik und weniger Markt. Wir müssen Jobs schaffen, sonst kommen wir nie von unseren Schulden runter.
Vendola: Die Austeritätspolitik ist politischer Selbstmord. Zum Beispiel der Fiskalpakt. Es ist unglaublich, dass so etwas in die Verfassung kommt. Das wäre so, als würde man Keynes in der Verfassung verbieten. Statt eines Fiskalpakts braucht Europa einen Sozialpakt.
Josef Stredula: Bei uns in Tschechien hat die Regierung das Rentenalter auf 72 Jahre heraufgesetzt. Jetzt hat sie ein Gesetz ausgearbeitet, das Streiks fast unmöglich macht. Wenn wir selbst wenig Lohnerhöhung fordern, drohen die Arbeitgeber mit Verlagerung. Bei den Arbeitnehmerrechten dreht sich die Spirale immer weiter abwärts. Das hat Folgen für unsere Nachbarn. Deutschland wird ein Nachbarland haben, das Mindeststandards nicht einhält. Wenn wir wirklich ein soziales Europa erreichen wollen, müssen wir auf die Menschen ganz unten schauen und ab und zu auch mal demonstrieren.